BZ, Donnerstag, 12. August 2004


moment mal
 

Die neue Moral


Bern kennt eine neue Sünde: Wer seit Montag das Velo ausserhalb eng definierter Parkzonen rund um den Bahnhofplatz abstellt, wird gebüsst. Weiss gekleidete Männer und Frauen bringen die neue Moral den potenziellen Sünderinnen und Sündern in diesen Tagen noch schonend bei: Sie beobachten messerscharf, ob ein Zweirad im Bereich des Guten steht. Wenige Zentimeter weiter liegt bereits das Jenseits. Abweichler werden mit einem Flyer konsequent ermahnt.
So gesehen bei der Heiliggeistkirche, wo einst Gottesvertreter die Unterscheidung von Gut und Böse von der Kanzel herab predigten, damals in hohen, hallenden Räumen unter Orgeltönen. Heute kommt die Predigt in Form von Flyern auf der Strasse daher, verteilt durch die Teilnehmer eines Sozialamtprojekts, unter akustischer Begleitung von Verkehrslärm.
Nach der Schonfrist Anfang September wird mit grösserem Moralgeschütz aufgefahren: Videokameras ersetzen die Flyers. Und oh weh: Ein Velo, das an vier aufeinander folgenden Tagen am gleichen Ort steht, wird ins Neufeld-Parking abgeschleppt. Ein Vorteil für alle, die sich schon längst ihres Rostgestells entledigen möchten. Dumm für Pendler, die sich nach vier Tagen vergeblich nach ihrem Drahtesel auf dem Stammplatz umsehen. «Big Alex is watching you», heisst es dann. Schliesslich ist hier Berns Planungs- und Verkehrsdirektor Alexander Tschäppät letzte Instanz. Ein Trost: Zu Sündern werden können alle. So auch Lebemann Tschäppät, der sein rotes Motorrad gerne mal auf einem Trottoir parkiert.
 

Hannah Einhaus